Montag, 22. Juli 2013

Ogawa, Yoko: Das Geheimnis der Eulerschen Formel


Seit einem geheimnisvollen Unfall währt das Kurzzeitgedächtnis eines Professors nicht länger als achtzig Minuten. Eine neue Haushälterin gewinnt sein Vertrauen, auch ihren zehnjährigen Sohn schließt er ins Herz. Über die faszinierende Welt der Mathematik kommen sie einander näher, und mit jeder neuen Gleichung, mit jedem neuen Zahlenrätsel entstehen zwischen ihnen Bande, die stärker sind als der Verlust der Erinnerung - bis die Schwägerin des Professors dem ein Ende setzt ... 













Die Poesie der Zahlen 
(zuerst veröffentlicht von parden auf Buchgesichter.de am 17.07.2013)

Jeden Tag aufs Neue vergisst er, wer er ist: Seit einem mysteriösen Unfall währt die Erinnerung eines ehemals brillanten Mathematikprofessors nur mehr achtzig Minuten. Zurückgezogen lebt er auf dem Anwesen seiner Schwägerin. Erst einer neuen Haushälterin, deren zehnjährigen Sohn der Professor sogleich ins Herz schließt, gelingt es, sein Vertrauen zu gewinnen. Über die faszinierende Welt der Mathematik knüpfen sie zarte Bande, bis die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit ihre Wirkung entfalten und die Schwägerin des Professors ihrer Annäherung ein Ende setzt.
Eine berückend schöne Geschichte über Freundschaft und Verlust - und über die Poesie der Zahlen. 

Die Eulersche Formel

Anfangs ist es für die Haushälterin irritierend, die Arbeit für jemanden zu verrichten, der einerseits so überaus intelligent ist, andererseits aber ständig wieder alles vergisst, was länger her ist als achtzig Minuten. Doch weit davon entfernt, einfach nur Mitleid mit dem Professor zu haben, lässt die Haushälterin sich zugewandt auf sein So-Sein ein und gewinnt dadurch sein Vertrauen, auch wenn er sich am nächsten Tag nicht mehr an sie erinnern kann.
So erkennt die Haushälterin zunehmend, wie gut der Professor sich in der Welt eingerichtet hat trotz aller Schwierigkeiten. Dinge, die er nicht vergessen will, schreibt er auf kleine Notizzettel und heftet sich diese an seinen Anzug. "...die Notizen, die ihn wie ein Kokon umhüllten..." Er geht nach Möglichkeit nicht nach draußen und überspielt Unsicherheiten mit Hilfe seiner Welt der Zahlen. So wird die Haushälterin z.B. jeden Morgen mit der Frage begrüßt, welche Schuhgröße sie hat.

In allem, was ihn umgibt, entdeckt der Professor den Zauber der Zahlen. Er erweist sich als geduldiger und einfühlsamer Vermittler mathematischen Wissens - und neben einem wachsenden Verständnis für derlei Zusammenhänge erlebt die Haushälterin zunehmend die Poesie, die der Professor aus den mathematischen Gegebenheiten zieht. "Mich überkam das Gefühl, dass sich mir in diesem Augenblick das Geheimnis des Universums offenbarte." (S. 69) Gerade im ersten Drittel des Buches konnte ich als Leser die Faszination der Haushälterin verstehen - stellenweise war ich richtig berührt. Wer hätte das gedacht: so ein trockener Stoff wie die Mathematik gewinnt durch diese Art der Darstellung etwas absolut Bezauberndes, Poetisches, fast Philosophisches. Und das ohne große Worte oder viel "Chi Chi"...
Ganz allmählich und trotz immerwährenden Vergessens entwickelt sich zwischen der Haushälterin, ihrem 10jährigen Sohn und dem Professor eine Freundschaft und von gegenseitigem Respekt geprägte Verbundenheit. Schön finde ich, wie es der Autorin gelingt, die Situation des Professors nahezubringen ohne dabei zu sehr ins Melancholische abzudriften. Um ihn nicht traurig werden zu lassen, versuchen die Haushälterin und ihr Sohn stets, die Illusion für ihn aufrecht zu erhalten. Denn wenn er merkt, dass er etwas vergessen hat, reagiert er irritiert und tief traurig, und das wollen die beiden um jeden Preis verhindern. Denn jeder Morgen ist für ihn schon schlimm genug, wenn er den wichtigsten Notizzettel immer wieder neu entdeckt: "Mein Erinnerungsvermögen dauert nur 80 Minuten".

Die Geschichte mag einige logische Fehler aufweisen, und teilweise erscheint die Erzählung vor allem im letzten Drittel etwas sprunghaft. Zudem ist dem europäischen Leser die japanische Mentalität sicherlich etwas fremd, so dass ein Rest an Distanz zu den Charakteren bleibt.
Doch insgesamt ist es ein derart anmutiges und bewegendes Buch, dass ich hierfür die volle Punktzahl vergebe und es in den Kreis meiner Favoriten aufnehme. 


© Parden 



Ich danke LovelyBooks und dem Aufbau-Verlag ganz herzlich für die Möglichkeit, dieses Buch im Rahmen einer Leserunde lesen zu dürfen.



Yoko Ogawa
Yoko Ogawa gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Tanizaki-Jun'ichiro-Preis. Für ihren Roman »Das Geheimnis der Eulerschen Formel« erhielt sie den begehrten Yomiuri- Preis. Yoko Ogawa lebt mit ihrer Familie in der Präfektur Hyogo.

Auf Deutsch erscheint ihr Werk im Münchner Liebeskind-Verlag.




6 Kommentare:

  1. Interessantes Sujet - erinnert entfernt an den Film "Und täglich grüßt das Murmeltier", nur wird hier die Zeitschleife durch die Begrenzung des Langzeitgedächtnisses ersetzt...

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    1. Assoziationen zu diesem Film hatte ich gar nicht, auch wenn ich verstehe, was Du meinst. Diese Geschichte hier ist wirklich anmutig und bezaubernd, und klamaukhaft ist sie zu keiner Zeit...

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    2. Das scheint mir eine berührende Geschichte zu sein. Überhaupt behaupten sich Japaner wohl ganz gut auf dem europäischen Bücherrummel?

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  2. Kennt sich jemand von Euch sehr gut in "Bildbearbeitung" bzw. "-gestaltung" aus? Ach Mensch, wenn ich das könnte ohne riesigen Aufwand. Ich habe noch eine Buchvorstellung zu "Das Geheimnis der Eulerschen Formel" gefunden, die mir außerordentlich gefällt - v.a. wegen der selbstgestalteten Bilder. So könnte ich mir Buchbesprechungen auch vorstellen!

    http://literatwo.wordpress.com/2013/07/10/das-geheimnis-der-eulerschen-formel-literatwo-zum-quadrat/

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    1. Du hast recht, das sieht gut aus. Ich denke, die Bildbearbeitung ist das kleinere Problem - das kann man hinkriegen. Aber, abgesehen von der Bildidee musst du ja erst die Ausgangsfotos erstellen, die du dann zu einer Collage zusammenfügen kannst. Ich fürchte, so ganz ohne (zeitlichen) Aufwand geht es deshalb nicht.

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    2. Ich glaube, ich muss echt mal einen Kurs belegen - autodidaktisch traue ich mir das nicht so recht zu... Mal sehen. Reizvoll wäre es in jedem Fall.

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