Sonntag, 9. Juni 2013

Illies, Florian: 1913 Der Sommer des Jahrhunderts

Eine Rezension von
TinSoldier

1913: 
Europa erlebt einen kulturellen Höhenflug wie selten zuvor. Der Aufbruch in die Moderne ist allenthalben spürbar: Gesellschaftliche Umwälzungen, wohin das Auge blickt. In Europa und Amerika, sich teilweise gegenseitig beeinflussend und befeuernd. Es ist ein hektisches, fieberndes Zeitalter am Beginn eines neuen Jahrhunderts. Auch politisch brodelt es allenthalben, besonders auf dem Balkan, wo sich nationalistische Tendenzen Bahn brechen und wo man Krieg führt. Im übrigen Europa hält man die gesellschaftlich-politischen Verwerfungen aber vorerst noch verborgen unter der Oberfläche mühsam gewahrter Normalität. Nur wenige wissen zu jenem Zeitpunkt die Zeichen der Zeit richtig zu deuten: Europa und die Welt stehen dicht vor dem                    
Abgrund des Krieges.
Die europäischen Metropolen Paris, Wien und Berlin haben sich indes in den Jahren zuvor zu den hauptsächlichen Kristallisationszentren der Avantgarde europäischer Kunst und des Geisteslebens entwickelt.
Hier pulsiert das Leben. 
Hier bereichert eine üppig-rastlose, ruhelos vorwärtshastende Künstlerszene, wer in den bildenden Künsten sowie in der Literatur, der Musik und auch in den darstellenden Künsten Rang und Namen hat oder künftig einmal haben wird. Wir begegnen Kandinsky, Franz Marc und der Künstlergruppe Brücke. Picasso schwelgt im Kubismus, Kokoschka entbrennt in Leidenschaft zur Komponistenwitwe Alma Mahler, Georg Trakl ist schwermütig und schreibt großartige Verse, Else Lasker-Schüler ist schillernde Persönlichkeit und avantgardistische Wegbereiterin des Expressionismus in der Literatur zugleich, und Franz Kafka schreibt den schlechtesten Heiratsantrag aller Zeiten! Wenn das kein Stoff für ein gutes Buch ist...
Atemlos ist die Zeit für die Wegbereiter der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts und schlaflos, ja überspannt bis hin zur Skurrilität sind die Akteure dieses pulsierend-aufregenden Kunst- und Kulturbetriebes. 
Burnout ist mitnichten eine moderne Erfindung des 21. Jahrhunderts:
Neurasthenie heißt die Modekrankheit der Zeit, die einen Zustand chronischer Erschöpfung und chronischer Müdigkeit beschreibt. Rainer Maria Rilke, gern als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker bezeichnet, hat sie und Franz Kafka auch. Und viele andere dieser hochsensiblen, hochbegabten aber den praktischen Lebensanforderungen kaum gewachsenen Neurotiker ebenfalls.
Müdigkeit scheint überhaupt eine (künstlerische?) und teilweise selbst verursachte Begleiterscheinung der Zeit gewesen zu sein:
Man findet es oft schon in Tagebüchern oder sonstwo erwähnenswert, wenn man einmal  v o r  Mitternacht zu Bett ging. So war man eigentlich beständig unausgeschlafen.
Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, ist mit einigen dieser Künstler, mit Rilke etwa, persönlich bekannt oder sogar befreundet, ist väterlicher Freund und Therapeut zugleich. 
Aber 1913 hat noch mehr zu bieten:
Thomas Mann beginnt seinen "Zauberberg", Heinrich Mann veröffentlicht seinen Roman "Der Untertan". Robert Musil leidet derweil an Neurasthenie. Während er am "Mann ohne Eigenschaften" schreibt, eröffnet Marcel Proust sein Monumentalwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" mit der Veröffentlichung von Band I. Sechs weitere Bände werden folgen. Ein Schriftstellerkollege bemerkt lakonisch dazu:

"Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang!"

Der "Postkartenmaler" Hitler begegnet, zumindest hypothetisch, Stalin auf einem Spaziergang in Wien. Aber man erkennt sich nicht.
Auch beeindruckenden Frauen begegnen wir:
Neben Else Lasker-Schüler und Alma Mahler etwa Sidonie Nadherny von Boruton und der großartigen Lou Andreas Salome, von der das Zitat stammt:

„Wir wollen doch sehn, ob nicht die allermeisten sogenannten 'unübersteiglichen Schranken' die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche herausstellen!“


Überhaupt: 
Diese Frauen zählten zweifellos nicht nur in der Kunst sondern auch was die weibliche Emanzipation angeht zur Avantgarde. Und Freizügigkeit in der Liebe gab es auch schon zu jener Zeit:

„Ich bin Erinnerungen treu für immer: Menschen werde ich es niemals sein.“
(Lou Andreas-Salomé).

Wir sehen, es war eine überaus kreative und spannende Zeit, über die hier berichtet wird. Die Beschäftigung mit Florian Illies`s Buch "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" ist lohnend und kurzweilig zugleich:
Lohnend, weil wir durchaus etwas für unsere Bildung tun und kurzweilig, weil Florian Illies uns mitnichten mit langweiligen und langatmigen kunsthistorischen und kunsttheoretischen Abhandlungen quält, sondern uns die beteiligten Akteure als Menschen nahebringt. 
Um es mit einem Bild aus der heutigen Zeit zu beschreiben:
Er steckt die Akteure sozusagen in einen imaginären "Big Brother Container", in dem wir ihre persönlichen Befindlichkeiten mit diskreter Anteilnahme und aus der Distanz eines Jahrhunderts betrachten. Dabei wird uns deutlich, dass diese kreativ unglaublich hochbegabten Künstler auch Menschen mit Fehlern und ganz alltäglichen Problemen waren. Ja, dass viele für ihre Kreativität mit einer bemerkenswerten, ja vielfach geradezu unglaublichen Untüchtigkeit für die profansten Dinge des alltäglichen menschlichen Lebens bezahlten. Hochbegabte Autisten sozusagen (wenn die Verwendung dieses Begriffes in diesem Zusammenhang erlaubt ist).
Florian Illies gelingt eine ungemein erfrischende Erzähl- und Darstellungsweise, an vielen Stellen mit feinem, köstlichem Humor gewürzt, so dass dieses Buch (auch für nicht kunsthistorisch interessierte Leser) an keiner Stelle langweilig ist!
Deshalb ist dieses Buch für mich ein Anwärter für mein ganz persönliches "Buch des Jahres", denn es gehört zu jener Gattung, die man, einmal begonnen, nicht mehr aus der Hand legt, bevor man es durchgelesen hat - und die man danach auch nicht mehr vergisst!





Florian Illies
1913 
Der Sommer des Jahrhunderts
319 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH Frankfurt am Main 2012
Deutsche Nationalbibliothek



Wiki hat geholfen!




© TinSoldier



7 Kommentare:

  1. Deine Rezension hat je genau sochen eruptiven Charakter wie die Zeit die du, bzw. dieser florian Illies beschreibt.
    Allerdings wird der wohl nächste historische Roman, den ich lesen werde, einen ähnlichen Titel haben: 1813, von Sabine Ebert.

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    1. Danke für die nette Anmerkung. Ich kann das Buch dennoch nur empfehlen. Selten so ein klasse Buch gelesen - auch wenn´s kein Roman sondern ein Sachbuch ist.
      LG vom
      Zinnsoldaten

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  2. Trotz Deiner "Liebeserklärung" wohl eher kein Buch für mich. Ich bedaure es gerade...

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  3. Ich bin gerade dabei, das Buch zu "verarbeiten", eigentlich lese ich es erst. Mir schwirrt der Kopf vor lauter Namen. Auch ist schlecht zu erkennen, was fiktiv ist und was nicht. Auf jeden Fall muss es eine Heidenarbeit gewesen sein, all diese Zusammenhänge herzustellen.

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    1. Rezensieren brauche ich es zum Glück ja nicht. Höchstens ganz kurz mit Hinweis auf TinSoldier.

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  4. Statt einer Rezension:

    Ich habe es versucht. Ich habe es wirklich versucht. TinSoldiers Rezension zu Florian ILLES Roman 1913 war so vielversprechend. Es ist aber auch ein tolles Buch. Aber ich gerate an meine Grenzen.
    Das „Tagebuch“ des Autors behandelt das Geschehen des Jahres 1913 – bevor also im Folgejahr der 1. Weltkrieg ausbrach. Es ist auch immer wieder von einem möglichen Krieg die Rede, aber immer mit der Aussage, dass keiner kommen wird. Warum? Nun, zum Beispiel kann sich den keiner leisten. Keiner hat Interesse daran. Tanz auf einem Vulkan…

    Namen über Namen: Freud, Jung, Kokoschka, Thomas Mann, Hitler, Stalin, Rilke, Trakel (?), Kirchner (?), Kaiser Franz Joseph, Kaiser Wilhelm, Zar Nikolaus, Ernst Jünger, König Georg V., Schnitzler (?), Matisse, Picasso, Rilke, Helene von Nostiz (?), Lou-Andreas Salome (?), Alma Mahler, Natherny (?), Reinhardt, Gretel Trakl, Ellen Delp (?), Franz Werfel (?), Robert Musil (?), Franz Marc (?), Golo Mann, Kiesling (?), Ascher (?), Pichot (?), Bildhauer Davidson …
    Unzählige Namen, meist Künstler, Künstlergruppen, vor allem Maler, Dichter usw.

    Eine Menge interessanter Informationen: „Am 16. August wird in den Ford – Automobilwerken erstmals ein Fließband eingesetzt. Im Geschäftsjahr produziert Ford 264972 (!) Autos.“
    „In Deutschland wird 1913 das ius sanguinis, die Abstammung, zur Grundlage für das neue Staatsbürgerschaftsrecht.“
    * * *

    Ehrlich, mir wird es zuviel. Eigentlich sollte es ein wie für mich geschaffenes Buch sein. Alles Mögliche zum fortwährenden Nachschlagen, Googeln und amüsieren. Aber ich kann nicht mehr als 5 Seiten hintereinander lesen. Habs heute zum wiederholten Male versucht. Auf dem eReader. Da hab ich das schon eine ganze Weile.

    Die Recherchewut des Autors wäre eine unendliche gewesen, hätte er sich nicht auf das Jahr 1913 beschränkt. Es ist einfach schade, aber ich leg es erst mal beiseite.

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