Donnerstag, 30. Mai 2013

BG: Kamera obskur - Eine fantastische Geschichte



Kamera obskur 

Eine fantastische Geschichte

von TinSoldier 
(zuerst veröffentlich bei Buchgesichter.de am 06.02.2012)


Der Fotograf hatte keine Chance.

Sie hatte ihn gefunden:
Eines schönen Tages war sie da und versprühte sogleich ihre unwiderstehlichen Reize. Sie war eine reife Schönheit, die dem Fotografen schöne Augen machte und ihn sogleich mit kühler Berechnung betörte, ihn gleichsam mit der fast lasziv zu nennenden Nacktheit ihres eleganten Körpers zu verführen trachtete und ihm damit Ruhe und Schlaf raubte. Drei Tage und schlaflose Nächte hatte er Widerstand geleistet, drei nicht enden wollende Tage lang hatte er sie mit wachsendem Begehren, ja mit Gier in den Augen betrachtet und mit Blicken verschlungen. Am vierten Tag endlich schmolz seine Widerstandskraft dahin wie Butter in der heißen Pfanne und er ergab sich ihren verruchten Reizen. Seither waren sie unzertrennlich und in exzessiver Leidenschaft verbunden. 

S i e war eine echte Hasselblad:

Rollfilmkamera. Mittelformat. 6 x 6. Wechseloptik.

Die war für einen Fotografen aus Leidenschaft in etwa so etwas wie ein guter alter Mercedes SSK für einen Automobil-Enthusiasten. Unbezahlbar. Kostbar. Heilig!

Sein Herz klopfte, als der Fotohändler sie aus dem Schaufenster nahm.
Die Hasselblad war ein exklusives Meisterstück der Fotomechanik, durch und durch solide gebaut, von einmaliger Präzision, mit schwerer, kühler Haptik, angenehm zu berühren: ein Prachtstück eben, eine Schönheit mit schlichter Eleganz, die eine fast schon erotische Anziehung auf den Liebhaber ausübte. 
Wenn er mit ihr arbeitete, war es ihm dabei fast, als verbringe er Zeit mit einer Geliebten, und das Geräusch des Verschlussvorhangs sowie das leise „Plop“ des Spiegels klang in seinen Ohren so verlockend wie die rauchig-verrufene Stimme eines Weibes, die ihm lasziv verbotene Dinge zuflüsterte. 

Die schlank-kompakte Hasselblad dankte ihm seine Begeisterung mit brillanten Aufnahmen, deren Reiz eine fast beängstigende Lebendigkeit war. Porträtaufnahmen wirkten so, als wollte die abgelichtete Person jeden Moment aus dem Foto herabsteigen und dem Betrachter lächelnd die Hände reichen.
Unmerklich geriet er mehr und mehr in den Bann der Hasselblad, die er fast wie ein denkendes, fühlendes Wesen behandelte, ja die ihn mehr und mehr faszinierte. Was dem Beobachter wie eine heftige Passion erschien, geriet in Wirklichkeit immer mehr zu einer Sucht, die er kaum noch zu kontrollieren in der Lage war. 

Der Fotograf hatte in seinem Leben bereits viele Momente und Motive auf Zelluloid gebannt, aber niemals zuvor auf die gleiche Art wie mit der Hasselblad. Mit ihr war die Arbeit auf bisher nicht erlebte Art intensiv, ja fast intim zu nennen und er entwickelte zunehmend eine Vorliebe dafür, Menschen mit und ohne ihr Wissen zu fotografieren, was durchaus einer bestimmten Form von Voyeurismus gleichkam. Er schalt sich einen Narren und konnte sich dennoch nicht des dunklen Gefühls erwehren, die Hasselblad habe auf eine unbegreifliche Art Macht über ihn und seine Motive!
Schleichend hatte sie sich tief in sein Bewusstsein gegraben, sich seiner Gedanken bemächtigt und beherrschte ihn schließlich völlig, ohne dass er sich seiner Abhängigkeit bewusst gewesen wäre. 
Je intensiver er sich der Hasselblad widmete, desto verblüffender waren die Abbildungen in ihrer Lebensechtheit und vitalen Präsenz. Und als wäre dies an sich nicht schon merkwürdig genug, erschien es ihm so, als verlören die abgelichteten Personen im Original in genau jenem Maße an Ausstrahlung, wie ihre Lichtbilder sie gewannen, so als entzöge die Hasselblad ihnen auf rätselhafte Weise mit jedem Foto ein Quantum Vitalität, um diese auf den Film zu bannen. All dies nahm er mit Schaudern wahr, schrieb es aber letztlich seinem überhitzten Gemüt und seiner fast unnatürlich heftig zu nennenden Passion zu. 

Seit einiger Zeit litt er zudem unter einem ständig wiederkehrenden Albtraum, in dem sich die Hasselblad während eines Fototermins mit einem weiblichen Modell in eine schlanke Frau mit roten Lippen, grünen Katzenaugen und langen schwarzen Haaren verwandelte, die ihn lächelnd ansah, bevor sie mit raubtierhaften Bewegungen und animalischem Fauchen das junge Modell ansprang und sich mit spitzen Zähnen in deren Hals verbiss. Mit scharfen Krallen zerriss sie die Halsschlagader ihres Opfers, sodass das Blut stoßweise im Takt des Herzschlages in einer roten Fontäne aus der Wunde spritzte. Gierig trank die furchtbare Hasselbladfrau das Blut ihres Opfers, das diesem Angriff hilflos ausgeliefert war. Bereits nach kurzer Zeit erlahmte die Gegenwehr des Mädchens, das, geschwächt durch den Blutverlust, nur grotesk mit den Armen ruderte, als wolle sie ein unsichtbares Orchester dirigieren. Doch auch diese Bewegungen wurden schwächer und schwächer, erlahmten schließlich völlig, während der rote Geysir aus ihrer Halsschlagader sich in einen schwach pulsierenden Schwall verwandelte, der schließlich auch versiegte.
Der leblose, schlaffe Körper entglitt dem festen Griff der Angreiferin und sank mit einem dumpfen Laut zu Boden. Dort lag das tote Modell halb auf dem Rücken in ihrem eigenen Blut und starrte ihn mit gebrochenen Augen an, während die Hasselbladfrau sich ihm blutbesudelt und mit grotesk verzerrter Fratze, die nichts Schönes mehr an sich hatte, zuwandte. Sie glitt lautlos auf ihn zu, und mit einem Augurenlächeln berührte sie ihn mit blutverschmierten Krallen am Kopf, um ein blutiges "H" auf seine Stirn zu zeichnen. 
An dieser Stelle seines furchtbaren Traums erwachte er regelmäßig schweißgebadet und mit dumpfen Kopfschmerzen, um erst nach einigen Sekunden verwirrt zu registrieren, dass er das alles nur geträumt hatte. 
Doch heute zwang ihn plötzlich aufsteigende Übelkeit aus dem Bett. Er eilte ins Bad und erbrach sich würgend in die Toilette. Er betätigte die Klospülung, als seine Magenkrämpfe nach einiger Zeit nachließen, und richtete sich langsam auf. Dabei fiel sein Blick wie zufällig auf den Toilettenspiegel an der Wand und er verharrte in seiner Bewegung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sekundenlang in den Spiegel. Erneut überkam ihn Übelkeit. 

Auf seiner Stirn prangte, verschmiert aber deutlich erkennbar, ein blutiges "H"!

Die Ereignisse hatten den Fotografen in einen Zustand nervöser Gereiztheit versetzt, und die fast unerträgliche Sommerhitze der letzten Wochen tat das ihre dazu. Über der ganzen Stadt lagen seit Tagen schweißtreibende Hitzegrade, und selbst die Nächte brachten keine nennenswerte Abkühlung mehr. Seit jenem Morgen nach seinem Albtraum plagte ihn zudem die Angst, langsam aber sicher den Verstand zu verlieren. Die Hasselblad hatte er seither nicht mehr angerührt. 
Zu seiner Erleichterung ließen aber seine nächtlichen Albträume schon bald nach und verschwanden schließlich völlig. Was blieb, war eine nach und nach verblassende Erinnerung, und mit der Zeit fragte er sich ernsthaft, ob er das alles jemals wirklich erlebt oder ob ihm seine übersteigerte Fantasie nicht etwa einen Streich gespielt hatte. Die aufgestaute Schwüle der letzten Tage entlud sich endlich in einem gewaltigen Gewitter, das sich mit auffrischenden Winden und einer tiefschwarzen Front ankündigte. Das Vorspiel zu diesem Naturereignis bestand aus einer gewaltigen Böenwalze, die über die Stadt hinwegfegte und unter heftigem Gegrummel und fernem Donnergrollen des heranziehenden Gewitters die aufgestauten schwül-warmen Luftmassen über der Stadt fortblies. Nach dem Durchzug der Böenfront war die Luft plötzlich für atemlose Sekunden ohne Bewegung und es war, als verharre alles lautlos im Auge des Orkans. Dann war die Gewitterfront schwarz-dräuend heran: Unter heftigen Blitzen und Donnerschlägen prasselten in kürzester Zeit ungeheure Wassermassen auf die Stadt nieder und es dauerte nicht lang, da war zwischen den heftigen Donnerschlägen das Heulen der Sirenen von Ambulanzen und Rettungsfahrzeugen zu hören. 
Nach dem Abzug des Gewitters atmete die ganze Stadt auf und mit ihr der Fotograf, dabei alle Beklemmung der vergangenen Tage vergessend. 
Hätte er geahnt, dass die Choreografie des Unwetters dem Ablauf der bisherigen und künftigen Ereignisse in verblüffender Genauigkeit entsprach, er wäre nicht so sorglos gewesen! 


Alles schien gut. 
Der Mensch ist Weltmeister im Vergessen und Verdrängen unangenehmer Erinnerungen. So hatte unser Fotograf bald das Gefühl, als habe das Unwetter alle seine düsteren Gedanken fortgeblasen, und im heiteren Licht der Sommertage betrachtet, erschienen ihm seine Albträume nur noch wie Produkte seiner überreizten Fantasie, die sich ebenso wie die sommerliche Schwüle schließlich in einer heftigen Reaktion entladen hatte. 
So lebte er für kurze Zeit ohne Besorgnisse, was seiner Kreativität Flügel verlieh, und arbeitete oft täglich mit mehreren jungen Studentinnen, die für ein geringes Honorar vor seiner Hasselblad posierten. Am Abend zuvor hatte er eine Fotosession mit Viola, einer jungen Kunststudentin, absolviert und als er an diesem Morgen aus der Dunkelkammer trat, hielt er die frischen Abzüge der Fotos jener Session in den Händen. Er setzte sich an den Schreibtisch, zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und breitete die Fotos vor sich aus. Die Fotos zeigten das Modell in verschiedenen Posen. Zufrieden mit dem Ergebnis inhalierte er erneut genussvoll und war im Begriff, sich entspannt zurückzulehnen, als er es sah: Auf einem der Fotos, es zeigte das Modell vor einem Spiegel, befand sich inmitten der Spiegelfläche eine Verunreinigung, ein unscharfer, an den Rändern verlaufener Fleck. Etwas war wohl beim Entwickeln schief gelaufen und hatte den Abzug verdorben. Er nahm das Foto in die Hand und betrachtete es genauer. Einen Moment lang saß er unbeweglich, während sich von seiner Zigarette der Rauch zur Decke kräuselte. Er fühlte, wie sich langsam seine Nackenhaare sträubten und ein Schauer durchlief seinen Körper. Das Grauen kam über ihn mit der Erkenntnis, w a s er auf dem Foto sah: 
Aus dem Spiegel im Hintergrund grinste ihm, schemenhaft und undeutlich, aber dennoch eindeutig erkennbar, das maskenhaft bleiche Gesicht der schwarzhaarigen Hasselbladfrau entgegen … 

Die Erscheinung auf dem Foto war höchst rätselhaft und beunruhigte ihn tief. Sofort nach seiner Entdeckung hatte er mit zitternden Händen mehrere Kontrollabzüge hergestellt, aber das Ergebnis war immer das Gleiche: Obwohl auf dem Negativ selbst mit einer Lupe nicht das Geringste erkennbar war, erschien auf jedem Abzug das geisterhafte Abbild jener unheimlichen Frau. 
Es war unheimlich und unerklärlich und er grübelte noch, was es zu bedeuten haben mochte, als ihn das Schrillen der Türglocke hochschrecken ließ. Hastig kramte er die Fotoabzüge vom Tisch und ging widerwillig zur Tür, um den Besucher einzulassen. Draußen stand Marie, ein angehendes Fotomodell, die Bewerbungsfotos für Modellagenturen bei ihm bestellt hatte. Er hatte diesen Fototermin völlig vergessen und konnte nun, obgleich er ihn jetzt am liebsten abgesagt hätte, nicht kneifen. Also arbeitete er für die nächsten 3 Stunden mit Marie in seinem kleinen Atelier und vergaß dabei fast die rätselhaften Ereignisse. Nachdem Marie sich verabschiedet hatte und mit ihrem gelben Cabrio davongebraust war, begab er sich sofort in seine Dunkelkammer, um die Filme und Fotos zu entwickeln. Danach schaltete mit heißem Kopf die Beleuchtung ein, um die Bilder im grellen Licht der nackten 100 Watt Birne, die von der Decke baumelte, zu betrachten. Mit zitternden Händen steckte er sich schließlich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich zurück und blies den Rauch mit einem Zischen der Erleichterung aus seiner Lunge: 
Auf keinem der Fotos war eine Anomalie zu sehen! 



Der nächste Tag begann nach einer traumlosen Nacht harmlos und friedlich. Geneigt, die rätselhaften Ereignisse aus seinen Gedanken zu verdrängen, schlurfte er mit wirrem Haar und im Morgenmantel gähnend zur Tür, um die Tageszeitung aus dem Briefkasten zu holen.
Mit einer Tasse schwarzen Kaffees und einer Zigarette setzte er sich an den Tisch und schlug die Zeitung auf, um wie jeden Morgen zunächst den Lokalteil zu lesen. Er hob die Tasse mit dem dampfenden Gebräu an die Lippen, als sein Blick auf den Artikel fiel, und verbrannte sich den Mund an dem heißen Getränk. Aber was er las, ließ ihn den Schmerz nicht spüren: 

"Kunststudentin tot aufgefunden" stand da in dicken Lettern.

Und:

„Die Kunststudentin Viola F. wurde heute tot in ihrem Appartement aufgefunden. Die junge Frau lag nackt in ihrer Badewanne und ist offenbar verblutet. Die Polizei ermittelt derzeit, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelt. Ein Abschiedsbrief wurde nach Angaben der Polizei bisher nicht gefunden. Rätsel gibt der Polizei ferner der Umstand auf, dass jemand mit dem Blut der Toten ein großes "H …" auf die Badezimmerkacheln geschmiert hat."

Unfähig sich zu rühren, saß er für lange Minuten da und starrte mit brennenden Augen auf die Zeitung, während die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen begannen.
Als er hinter sich ein Geräusch hörte, das ihm wohlbekannt war, fuhr er mit einem Schrei herum und stieß dabei die Kaffeetasse vom Tisch. 
Da lag die Hasselblad noch, wo er sie gestern Abend abgelegt hatte und blinzelte mit dem starren Auge des auf ihn gerichteten Objektivs zu ihm herüber. Ungläubig starrte er zurück. Es war unmöglich, aber was er gehört hatte, waren das wohlbekannte Geräusch des Kameraverschlusses und das leise „Plop“ des Spiegels. Es gab keinen Zweifel: Die Hasselblad hatte soeben ein Foto von ihm gemacht! 



Beunruhigt durch das Geschehene wählte er mit bösen Vorahnungen und zitternden Fingern wiederholt Maries Nummer, aber es nahm niemand ab. So jagte er wenig später auf seiner Moto Guzzi durch die Stadt auf dem Weg zu ihrer Wohnung.
Kurz vor dem Ziel atmete er erleichtert auf, als ihm das gelbe Cabriolet mit der blonden Marie am Steuer entgegenkam. Er reduzierte seine Geschwindigkeit und wendete sein Motorrad. Erleichtert fuhr er auf der mehrspurigen Straße schließlich neben ihr. Marie saß aufrecht hinter dem Steuer und starrte mit abwesendem Blick geradeaus. Sie reagierte weder auf sein Hupen noch auf sein Winken. Mit Entsetzen sah er, dass die Verkehrsampel voraus Rot zeigte, was Marie aber nicht zu bemerken schien. Verzweifelt hupend versuchte er, sie zum Bremsen zu bewegen. Marie schien ihn schließlich zu hören und drehte zögernd ihren Kopf. Mit abwesendem Lächeln und leerem Blick sah sie ihn an und mit Schaudern nahm er wahr, dass sie mit unverminderter Geschwindigkeit weiter fuhr. Er schrie vor Verzweiflung, während das gelbe Cabrio wie in einer Zeitlupenaufnahme ungebremst unter den Anhänger eines Sattelschleppers raste, der von rechts kommend die Kreuzung passierte. Verzweifelt und wie in Trance musste er zusehen, wie Marie starb: 
Ihr Kopf wurde sauber vom Rumpf getrennt, während der Sattelschlepper mit riesigen Zwillingsreifen das Vorderteil ihres Wagens zermalmte. Mit kreischenden Bremsen rutschte das riesige Fahrzeug wie ein gestrandeter Wal weiter, knickte schließlich ein und kam erst weit hinter der Kreuzung mit qualmenden Reifen zum Stehen. 
Das, was der Koloss von dem gelben Cabriolet übrig gelassen hatte, war zur Seite geschleudert worden und lag nun inmitten zermalmter Fahrzeugteile und Glassplitter mit plärrender Hupe mitten auf der Kreuzung, während das Kühlwasser auslief und eine blutrote Fontäne im Takt des Herzschlags aus dem Torso auf dem Fahrersitz den gelben Lack des Autowracks bespritzte. 
Der Fotograf taumelte einige Schritte in Richtung des Unfallwracks, bevor seine Beine ihm den Dienst versagten und er schluchzend auf seine Knie fiel. Er kroch auf allen Vieren, während Tränen über seine Wangen liefen. Sein Verstand versuchte, das Chaos zu erfassen, und er starrte mit Grauen die Aufschrift auf der Plane des Sattelschleppers an. Sein Entsetzen brach sich in einem irren Lachen Bahn, als er die Worte las, die dort standen: 

"Spedition Hasselblad –

mit uns sind sie dem Himmel näher, als sie denken!"



Die Fähigkeit eines Menschen, seelische Verletzungen zu ertragen ist begrenzt, weshalb die menschliche Psyche zum Selbstschutz zur Verdrängung belastender Erinnerungen neigt. Der quälende Gedanke, Schuld an dem grausamen Tod der jungen Frauen zu tragen, blockierte diesen Schutzmechanismus bei unserem Fotografen, weshalb seine Seele Schaden nahm. Eine Fotokamera hatte er seither nicht mehr angerührt, sondern widmete seine ganze Zuneigung ausschließlich einer zierlichen, blondmähnigen jungen Frau mit sanften, braunen Augen, welche ihm seit einiger Zeit sehr zugetan war. Leonie bewohnte ganz in seiner Nähe eine kleine Wohnung und hatte es sich unglücklicherweise in den Kopf gesetzt, ihn von seiner Psychose zu heilen, indem sie ihn dazu bringen wollte, sie mit der Hasselblad zu fotografieren. Mit aller ihr zur Verfügung stehenden weiblichen Überredungskunst überwand sie seinen Widerstand und er gab ihrem Drängen schließlich nach. Von Stund an veränderte sich Leonie, wurde einsilbig und redete schließlich gar nicht mehr. Tag für Tag saß sie bewegungslos in ihrem Sessel am Fenster, den Blick starr nach draußen gerichtet. Der Fotograf aber hatte jeden Bezug zur Realität verloren. Sein Verstand weigerte sich schlichtweg, das Offensichtliche zu erkennen.
Im gleichen Maße, wie er zunehmend geistig und körperlich verwahrloste, kümmerte er sich rührend um Leonie. Täglich saß er bei ihr, kämmte ihr langes Blondhaar und hielt ihre Hand, während er stundenlang zu ihr redete, bis er vor Erschöpfung an ihrer Seite einschlief. Leonie aber saß weiter stets nur stumm und unbeweglich und zeigte keine Regung. So ging es über Monate, bis er schließlich eines Tages aus seiner Lethargie erwachte, sich mit tränenden Augen erhob und Leonie zärtlich über das Haar strich. Dann ging er wortlos ins Bad, wo er sorgfältig die Tür hinter sich verschloss. 



Einige Tage später fand man in der Wohnung in einem verstaubten Sessel die mumifizierte Leiche einer jungen Frau und im Bad den erhängten Leichnam des Fotografen.
Die Hasselblad aber wartete schon bald darauf im Schaufenster des Fotohändlers auf einen neuen Liebhaber. 


Finis


© TinSoldier

6 Kommentare:

  1. Ich erinnere mich an diesen Text. Bin auf Weiteres sehr gespannt...

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  2. Hab´s eben noch einmal gelesen. Leicht gruselig. Aber ich fotografiere jetzt digital. Da brauch ich doch keine Angst zu haben, oder?

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  3. Na ja, man weiß nie.... ich wäre an deiner Stelle doch mal lieber vorsichtig! Aber egal, du kannst ja Karate :-) !

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  4. Mich gruselt es auch beim wiederholten Lesen - eine tolle Atmosphäre hast Du da kreiert!

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  5. Die Rubriken "lustig", "interssant" und "cool" sind bei unserer Schreibstube nicht immer angemessen - oder?

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